Rosenwinkel by Rist Luise

Rosenwinkel by Rist Luise

Autor:Rist, Luise [Rist, Luise]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: cbt
veröffentlicht: 2015-07-30T16:00:00+00:00


15

»Schai avilen!« Ich grüße die Frauen mit zwei Wörtern, die mir Anita beigebracht hat und die ich in Deutschland nie ausgesprochen habe, weil ich mir etwas blöd dabei vorkam. Schai avilen, das heißt so viel wie »Seid ihr gut gereist?« oder so etwas. Das würde ja jetzt eher andersherum passen. Dass sie das zu mir sagen. Aber laut Anita ist das eine gängige Anrede. Obwohl sie selbst grundsätzlich nur Hallo sagt.

Die Frauen lächeln. Ich glaube, es sind Schwestern. Schnell merken sie, dass das mein einziger Satz auf Romanes ist, den ich einigermaßen herausbringe, aber sie freuen sich, dass eine Gadsche überhaupt etwas von ihrer Sprache versteht, und bieten mir daher die Hälfte eines Granatapfels an, dessen roter Saft nach allen Seiten spritzt, als ich versuche, vom Fruchtfleisch zu essen.

»Merweta Beganovic«, sage ich. Alle drei nicken sie, deuten in die Ferne.

Ich bin wie elektrisiert. Sie kennen Merweta!

»Njemačka.«

Njemačka heißt Deutschland. Ich schüttele den Kopf.

»Merweta«, sage ich. »Bosnija.« Jetzt schütteln sie die Köpfe. »Anita Beganovic«, mache ich einen neuen Versuch. Wieder nicken sie, deuten in die Ferne, Richtung Njemačka wahrscheinlich.

Wissen sie überhaupt, von wem ich spreche? Kennen sie die Familie Beganovic wirklich? Wenn sie Merweta und Anita kennen, dann vermuten sie sie jedenfalls nicht in Bosnien und schon gar nicht in ihrer Nähe. Anita ist also nicht in Diwaniol. Diese Erkenntnis schmeckt bitterer als der Granatapfelsaft. Eigentlich möchte ich sofort umkehren. Aber vielleicht kann ich doch etwas von ihnen erfahren. Ich folge den dreien ins Dorf. Oder wie soll ich das nennen?

Die verfallenen Häuser von Diwaniol könnten auch aus der Antike stammen. Ein römisches Dorf, das man ausgegraben hat und in dem sich Obdachlose ein Asyl gesucht haben. Schwarz gekleidete Frauen schleichen um die Reste einer vergangenen Zivilisation, sie gehen auf leisen Sohlen, huschen davon, wenn sie mich bemerken, tauchen an der nächsten Ecke wieder auf, nicht feindselig, aber unglaublich scheu. Wie die Katzen, die mir auf Schritt und Tritt begegnen.

Nur die drei Frauen, die ich bei der Ernte angetroffen habe, sind bereit, mit mir eine Art Unterhaltung zu führen. Langsam gehe ich neben ihnen her, einen Hang hinauf. Sie sind so dünn, diese Frauen, und wirken, als wäre jeder Schritt, den sie tun, bereits einer zu viel. Rechts und links des Weges befindet sich Geröll, Hausrat, alte Elektrogeräte stehen herum, eine Waschmaschine von Bosch. Eine Frau mit nur einem Bein stützt sich auf einen Stock. Ich erstarre. »Dober dan!«, rufe ich, das ist doch die Frau von der Brücke! Aber wie konnte sie in die Stadt gelangen? Verwundert, aber desinteressiert gleitet ihr Blick an mir ab. Oder ist es gar nicht dieselbe? Die Frau macht keine Anstalten, von mir Geld zu verlangen. Vielleicht bettelt man auch nicht vor der eigenen Haustür, wenn man von Haustür in diesem Falle sprechen kann. Die Tür besteht aus Pappkartons. Absurderweise muss ich an Anna-Lena denken, die jetzt in Portugal in diesem Wohnprojekt arbeitet. Überall offene Türen. Aber die Haustür ist fest verschlossen. Welche Gäste sind willkommen, welche nicht? Das hätte ich sie fragen sollen. Mir fallen immer erst hinterher die passenden Fragen ein.



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